Die Anfahrt zum 100/200 gehört (sofern man mit dem Rad fährt) zu den schönsten, die man sich in Hamburg vorstellen kann. Vom Oberhafen rollt man auf glattem Asphalt Richtung Osten. Im Rücken die untergehende Sonne, rechts die wachsende Hafencity, voraus eindrucksvolle Brücken.
Angekommen weist am Eingang nur wenig auf ein Restaurant hin. Nur an einem Stahltor steht dessen Schriftzug. Dann geht es drei Etagen mit einem Fahrstuhl hoch, der auch in jedem Bürohaus sein könnte. Wir drücken auf eine provisorisch wirkende Klingel (die aber kein Provisorium ist, sondern zum Konzept gehört) und werden kurz darauf hereingelassen.
Ein kleiner Rundgang führt uns durch den großen Raum mit bläulich-anthrazitfarbenen Wänden, vorbei an Wandregalen mit allerlei gläsernen Fermentationsgefäßen und endet an der großen Fensterfront mit fantastischem Blick auf Sonnenuntergang, Brücken und schimmerndes Wasser. Dazu ein paar Schlücke Cremant und plötzlich ist Hamburg für ein paar Momente Weltstadt. Es dürfte ziemlich genau so geworden sein, wie es sich Thomas Imbusch in unseren beiden Interviews gewünscht hatte.
Kurze Zeit später führt uns Restaurantleiter Jan-Philipp Fricke zum Herzstück des Restaurants: dem mittig platzierten, prächtigen Molteni-Herd mit seinen großen, gusseisernen Kochfeldern. Und davor steht der, der sich das alles ausgedacht hat. Thomas Imbusch, der zuvor in Tim Mälzers Off Club kochte, begrüßt uns mit fünf Kleinigkeiten, die die fünf Geschmacksrichtungen repräsentieren.
Es beginnt mit milder Süße in Form eines halben Macarons mit Kartoffel und dezenten Noten von Kaffee und Kakao.
Für die Säure steht ein kleines Blätterteigkissen mit fruchtiger Tomate, ebenfalls noch eher zurückhaltend.
Doch dann spritzt uns die Gischt förmlich ins Gesicht. Die lauwarm temperierte Auster mit Kimchi und „Fett“ (leider habe ich versäumt nachzufragen, um welches es sich handelte) schmeckt intensiv-salzig und bringt auch die gewohnte Jod-Note mit. Wie ein Schluck Meereswasser nur genussreicher, intensiver und facettenreicher.
Ebenfalls wie ein kleiner Geniestreich wirkt die halbe, sehr fleischige grüne Olive mit einer weißen Paste (ohne Bild). Sie besteht aus dem, was man bei der Zitrone sonst extra wegschneidet: der flaumigen weißen Schicht unter der Schale, botanisch Mesokarp oder Albedo genannt. Es schmeckt ätherisch-zitronig mit angenehmer Bitternote.
Als letzte Steigerung folgt umami, der herzhafte Geschmack: Eine Brühe nur aus Hühnerfüßen und Kombualgen, die – wie Imbusch mit Nachdruck betont – ohne weiteres Salz gekocht wurde. Sie ist so intensiv, wuchtig und tief, wie man es von einer Brühe, die nur aus zwei Zutaten gekocht wurde, nicht für möglich halten würde.
Eine spannende, abwechslungsreiche Einstimmung, die ihren Namen verdient. Denn sie steht nicht für sich alleine sondern gibt die Richtung für einen Abend vor, in dem Imbusch immer wieder mit den gleichen Motiven spielen wird.
Am Tisch angekommen genießen wir als kleine Überbrückung ein Brot mit krosser Kruste, saftiger Krume und nussigem Geschmack. Dazu gibt es eine Joghurtbutter, bei der der (abgetropfte) Joghurt im Verhältnis die Butter überwiegt und das Ganze so angenehm leicht aber nicht weniger köstlich macht.
Das erste am Platz servierte Gericht setzt nahtlos an die Einstimmungen an. Auf einem lauwarmen Chawanmushi (einer Art japanischem Eierstich), findet sich eine grob geschnittenes, hervorragend abgeschmecktes Tartar vom Saibling, Saiblings-Kavier, einige grob zerteilte Grapefruit-Segmente und geröstete Haselnüsse.
Ein theoretisch orientierter Kulinariker, der Speisen gerne in seine Einzelheiten auseinander dividiert, um daran Texturen, Gegensätze und geschmackliche Symbiosen zu erklären, hätte an diesem Gericht seine Freude: Seidiger Eierstich, der Fisch in zwei Konsistenzen als festes Fleisch und im Mund zerplatzende Eier, Schnittlauchröllchen, die zwiebelige Herzhaftigkeit bringen, dazu die Bitterkeit der Grapefruit und das Aroma gerösteter Haselnüsse. Auf kleinstem Raum erlebt man hier ein Maximum unterschiedlichster Geschmacks- und Konsistenzeindrücke, die im einen Moment alle für sich einzeln wahrnehmbar sind und im anderen Moment ein großes, köstliches Ganze ergeben. Und selbstverständlich muss man sich nicht erst groß den Kopf über die Theorie zerbrechen sondern kann es einfach vergnügt auslöffeln und genießen.
Das nächste Gericht steht ebenfalls exemplarisch für Imbusch, seine Philosophie und seine Küche. Schlicht als „Schnecken und Erbsen“ vorgestellt, beheinhaltet es mit den Schnecken eine Zutat, die – wenn sie es vorher wüssten – vermutlich einige Gäste von einem Restaurantbesuch abhalten würden. Imbusch würde dem vermutlich mit einem Achselzucken gegenüberstehen, sieht er sie doch eher als ganz selbstverständliches Produkt der französischen Gourmetküche.
Und die Art der Zubereitung hat das Zeug, auch die größte Skepsis (auch bei mir, das sei der Fairness halber erwähnt) zu überwinden. Die Schnecken haben eine angenehm weiche aber niemals labberige oder zähe Konsistenz und einen kräuterigen, nussigen Geschmack. Begleitet werden sie von knackigen Erbsen und einem Raviolo, dessen atemberaubend köstliche Füllung ebenfalls aus Erbsen gemacht ist. Das Ganze wird durch eine wunderbar süffige Sauce miteinander verbunden, für die die Karkassen des Saiblings mit weißem Pfeffer angeröstet wurden. Meine persönliche Schneckenpremiere und dann gleich so eine!
Weiter geht´s mit Saibling Teil 2. (Zählt man die Sauce des vorherigen Ganges mit, ist es sogar Teil 3.) Auf dem Teller liegen dünne, knackige Scheiben von fermentierter Mairübe, Dill-Spitzen, ein kräuterig-öliger Sud, Holunderbeeren und erneut etwas Saiblingskaviar. Dazu kommen zwei gebratene und verführerisch golden glänzende Filets des Saiblings, separat in gusseiserner Pfanne auf den Tisch gestellt.
Der Fisch hat eine Ausnahmequalität, mit allen Attributen, die damit einhergehen. Saftiges Fleisch mit klarem Geschmack, krosse Haut, leichte Salznote. Die Tatsache, dass der Fisch erst am selben Tag gefangen wurde, hat daran sicherlich ihren Anteil. Für den Rest des Gerichtes gilt, was bereits oben beschrieben ist: Ein großer Variantenreichtum unterschiedlicher Konsistenzen, Texturen und (wichtig!) Temperaturen. Schließlich ist der Saibling der einzige warme Bestandteil dieses Gerichtes, das obendrein sogar noch von ebenfalls separat gereichtem, gefrorenem Wasserkefir (als feines Granité) begleitet wird. Dessen Zubereitung habe ich leider nicht ganz nachvollziehen können (sie funktioniert mit Wasser, Zucker und den namensgebenden Kefirkulturen), seine leichte Süße und die Frische der zarten Eiskristalle sind jedenfalls eine weitere überraschende und verblüffend passende Ergänzung des Gerichtes.
Als nächstes folgt der Auftritt des Huhns von Lars Odefey. Das Weidehuhn wird ab mehreren Personen im Ganzen gebraten und auf den Tisch gestellt. Wir sind zu zweit (und einmal vegetarisch unterwegs), weshalb Imbusch in diesem Fall für eine Person die confierte Keule serviert. Das Fleisch hat einen mustergültig kräftigen Geflügelgeschmack, eine gut gewürzte Haut (ich meine Koriander geschmeckt zu haben, versäumte es allerdings leider nach der tatsächlichen Zubereitung zu fragen) und festes Fleisch. Letzteres kann für Gäste, die Geflügel aus der Schnell-Mast gewohnt sind, zunächst irritierend wirken. Das Wissen um die außergewöhnlichen Haltungsbedingungen auf dem Hof von Lars Odefey lassen das aber nicht nur in den Hintergrund treten sondern einen diese Konsistenz schätzen lassen.
Am Tisch gibt Thomas Imbusch noch eine nicht geringe Menge einer Sauce rouennaise hinzu. Mit der recht dicken, mit Hühnerblut gebundenen Sauce aus der französischen Küche löst Imbusch gewissermaßen ein Versprechen ein. Denn stets erwähnte und praktizierte er seit jeher seine Leidenschaft für die französische Klassik, die er im 100/200 nun weiter pflegen kann. Und die großzügige, in der kleinen Kasserolle verbliebene Menge der Sauce, von der man nichts verschwenden sollte, zeigt einem, welchen Schatz Imbusch hier hütet. Aus weiteren Bestandteilen besteht dieses Gericht übrigens nicht. Fleisch und Sauce, fertig.
Als (fisch-)vegetarische Variante serviert Imbusch vier hervorragend sautierte Kaisergranate, die er – erneut ganz schlicht – nur mit etwas Tomatenkompott serviert. Schlichtheit in ihrer besten Variante, bei der alle Aromen erneut sehr klar, präsent und intensiv sind. Ohne ablenkendes Beiwerk. Gefolgt wird dieses Gericht in diesem Fall von einer Kombination aus Kohlrabi und dem Sud aus den Köpfen der Kaisergranate (ohne Bild), für den die gleichen Attribute gelten. Köstlich.
Bei mir geht es unterdessen mit dem zweiten Teil des Huhns weiter. Von Imbusch nur gewohnt knapp als „Rest vom Huhn“ betitelt. Gemeint ist ein Ragout aus Innereien wie Herz, Magen und Kehlsack (vergleichbar mit einem Kropf). Während das Gericht bei einer Dame am Nebenplatz postwendend zurückgeht („tut mir leid, aber da habe ich einfach Kopfkino“), bereitet mir dieser Gang größtes Vergnügen. Imbusch hat kurz vorm Servieren direkt am Tisch noch etwas geschlagene Sahne untergehoben, gibt das Ragout in den Teller, geht weg – und lässt die schwere Kupferkasserolle einfach stehen. Ein Versehen? Natürlich nicht. Warum sollte man den Rest, der nicht in den Teller passte, wieder mitnehmen? Warum wegspülen? Imbusch bricht erneut mit gängigen Mustern. Der Topf bleibt stehen und wird restlos ausgekratzt. Wie zuhause. Der Geschmack ist salzig, fettig, cremig, herzhaft aber gleichzeitig frisch mit leichter Zitrusnote und schlicht eine Wohltat. Und optisch? Nun ja, eben ein Ragout. Wieder keine Deko, kein Beiwerk. Imbusch kocht nicht für Instagram sondern für den Geschmack.
Ein weiterer Aspekt seiner Arbeit und dieses Gerichtes: Anderswo würden hier Label wie „No waste“ oder „Nose to tail“ in den Vordergrund gerückt. Für Imbusch sind es dagegen Selbstverständlichkeiten, Tiere ganz zu verarbeiten und keine Fleischabschnitte zu produzieren, nur damit ein Teller nach „Sterneküche“ aussieht. Das ist so unnormal normal, dass es es verdient hat, erwähnt zu werden.
Souschef und Patissier Mario Michaelis, der Imbusch nun schon seit ein paar Jahren begleitet, war auch an diesem Abend schon die ganze Zeit mit im Spiel, nun gegen Ende kommt sein Auftritt. Er beginnt mit einem Macaron aus Litschi, Rose und Himbeere. Nach einer ganzen Reihe von Superlativen kommt man nicht umher, hier einen weiteren zu platzieren. Denn das blumig-beerige Aroma, die saftige aber nicht klebrige Konsistenz machen den Macaron zum besten, den ich bislang probiert habe.
Und so geht es direkt weiter. Zusammen mit einer Überraschung. Denn statt eines auf einem Teller angerichteten Desserts gibt es ein Gebäck aus den Händen von Mario Michaelis: Ein Brioche feuilletée. Also ein Brioche, dessen Teig zusätzlich mit Butter gefaltet (touriert) wurde wie Blätterteig und anschließend zu einer hübschen, spitzen Schneckenform aufgerollt und gebacken wurde. Dieses Gebäck ist ein Gedicht. Nur mit dezenter Süße und einer Spur Zimt ist es, um es mit Michaelis´ Worten zu sagen, eine fantastische Verbindung von französischer Patisserie und einem Tribut an Hamburg (und seinen Franzbrötchen). Lediglich eine etwas höhere Temperatur könnte den Genuss hier noch vergrößern.
Dazu gibt es in einer separaten Schale ein Reneclauden-Kompott und Sahne mit viel Vanille. Beides vermengt Mario beherzt am Tisch. Anschließend rollt man das Brioche Stück für Stück auf, gibt einen Klecks Sahne mit Kompott drauf und genießt. Welch großes Glück.
Zeit für ein Fazit. Thomas Imbusch setzt ziemlich kompromisslos das um, was er sich vorgenommen hat. Eine klassische Küche, in deren Vordergrund die Produkte und ihre bestmögliche Zubereitung stehen. Und Gerichte, die er ohne weitere Ablenkung serviert. Kein Schaum, kein Gel, keine artifiziellen Texturen.
Es passt auch zu Imbuschs Credo der „schlichten Küche“, dass er am Tisch nicht viele Worte macht sondern lieber die Speisen für sich sprechen lässt. Das ist einerseits angenehm und sicherlich schöner als allzu ausschweifende Erklärungen. Doch die Güte der Gerichte hätte zum Teil auch eine ausführlichere Erklärung verdient, da es so viel spannendes zu erfahren und verstehen gibt.
Das Restaurant 100/200 wird vielen aus dem Kosmos der Gastronomie und interessierten Gästen noch viel Gesprächsstoff und Anlass zur Diskussion bieten. Niemals wegen der Produkte, niemals wegen Imbusch´s Handwerk und niemals wegen der Güte der Speisen. Sondern weil Imbusch seinem Publikum etwas höhere Hürden setzt, als es es von anderen Restaurants gewohnt sein dürfte: keine Karte, zum Teil vergleichsweise außergewöhnliche Produkte, dazu noch ein Ticketsystem, das eine Buchung im voraus verlangt. Insofern gibt es eine ganze Reihe von Gründen, wegen derer es sich lohnt, das 100/200 und Thomas Imbusch in der Zukunft zu verfolgen und zu besuchen.
Besonders bekannt wurde das Restaurant 100/200 auch mit seiner Grundkiste, mit der es seine Gäste mit frischer Feinkost aus der Sterneküche versorgt.
Eine besondere Auszeichnung hat Thomas Imbusch mit dem grünen Stern des Guide Michelin erhalten, mit dem er für eine besonders nachhaltige Küche ausgezeichnet wird.
Das Restaurant führt Thomas Imbusch zusammen mit Sophie Lehmann.
Offenlegung: Ich danke Thomas Imbusch für die Einladung.