Das Procedere zu Beginn unseres Besuchs im 100/200 kennen wir schon vom ersten Mal, es ist erneut ein schöner und sehr gelungener Auftakt: Zum Aperitif an die große Fensterfront mit Blick auf Hafen und Lichter, danach an die offene Küche für fünf kleine Einstimmungen, die sich an je einer Geschmackrichtung orientieren. Den Anfang macht ein Zwiebel-Macaron mit geschmorter und erstaunlich süßer Roscoff-Zwiebel, gefolgt von einer pochierten Auster mit Kimchi und deutlicher Salznote. Für die Säure steht eine Art Shortbread mit Alge, Sanddorngel und Stechapfel. Die Bitterkeit wird durch eine kandierte Olive mit dem weißen Inneren einer Zitronenschale verkörpert (ohne Bild). Zum Abschluss folgt für „umami“ (herzhaft) eine Brühe aus den Schalen und Köpfen der Garnelen, die uns später noch im Menü begegnen. All diese „Snacks“ sind schlüssig und passend zu ihrer Geschmacksrichtung, doch die Brühe beeindruckt am meisten. Durch langes Anrösten haben die Schalen ihr volles Aroma entfaltet, würzig, tiefgründig und sehr köstlich.
Unser Platz an diesem Abend ist vermutlich der beste, den man zu zweit haben kann. Am Hochtisch mit Blick auf den wuchtigen Molteni-Herd und auf den Küchenpass, an dem Thomas Imbusch, sein Souschef Mario Michaelis und die weiteren Köche die letzten Handgriffe an den Speisen vornehmen.
Das Brot ist erneut Spitzenklasse. Dieses Mal ist es ein Weizensauerteig-Brot mit kräftiger Kruste und knusprigem Schrot, grobporig und saftig. Dazu ist die cremige Joghurt-Butter mit leicht säuerlicher Note die perfekte Ergänzung. Von ihr bekommen wir später am Abend noch etwas Nachschub, weil wir sie uns so dick aufs Brot geschmiert hatten. So sollte man das hier nämlich machen.
Das Menü beginnt mit einem knusprig und zugleich saftig gebratenen Toast, den wir mit der Hand essen. Auf ihm befindet sich eine Garnelen-Mayonnaise, rohe und lediglich kurz angeflämmte Förde-Garnelen aus der nähe von Kiel, obenauf knusprig gebratene Steifen vom Austernpilz. Das zu essen macht unheimlich Spaß. Die Garnelen bringen zwar nicht viel Eigengeschmack mit, dafür einen bislang nicht gekannten, knackigen Biss. Eine leichte Säure (durch Zitronensaft?) bringt alles ins Gleichgewicht. Das erste große sensorische Highlight des Abends.
Der nächste Gang ist mindestens ungewöhnlich: Eine Nocke von sehr fein geschnittenem, herbem Sauerkraut, ein Parmesansud, Dillöl und von einer handgetauchten Jacobsmuschel nicht etwa wie gewohnt der weiße Muskel sondern Bart und Corail (Rogen). Letzterer wird sonst auch gerne mal aussortiert und ist nur bei Top-Qualität genießbar. Während die Bärte eher nur Konsistenz und Röstaromen vom scharfen Anbraten mitbringen, ist der Corail zum Staunen gut. Cremig, mild und leicht salzig. Das Sauerkraut ist dazu ein starker Kontrast, der Sud schmeckt nicht vordergründig nach Parmesan sondern in erster Linie herzhaft.
Eine weitere Demonstration, was erstklassige Qualität bedeutet, ist der Muskel der Jacobsmuschel. Er ist praktisch roh, von sehr angenehm festem Biss und deutlich süßlich. Man kann eigentlich nur staunen, was das Meer für unterschiedliche Delikatessen hervorbringt. Unter der Muschel befindet sich eine Sanddorncreme mit sauer-herbem Aroma, oben auf ein paar Späne der Macadamia-Nuss und ein paar Tropfen Petersilien-Öl. Im Vordergrund stehen geschmacklich aber das hervorragende Muschelfleisch und der Sanddorn.
Weiter geht es mit einem äußerst spannenden japanisch-deutschen Brückenschlag: Störbauch, den Thomas Imbusch nach „unagi“-Art zubereitet hat. Dazu hat er aus Räucheraal, Sojasauce und Zucker einen intensiven, süßlichen Lack gekocht und damit den Stör glasiert. Für den norddeutschen Einschlag sorgen rote Beete, Kartoffelcreme und knusprig frittierter Grünkohl. Ergibt zusammen eine tolle Vielfalt unterschiedlichster Konsistenzen und Aromen und ist dabei herrlich heiß, süß und herzhaft.
Auf diesem Niveau geht es direkt weiter: Stör-Filet, das in einem konzentrierten Rinderfond pochiert wurde, liegt in einer pechschwarzen Sauce. Sie basiert ebenfalls auf einem Räucheraal-Auszug, die Besonderheit ist aber die Verwendung von Kombucha, das Süße und Säure beisteuert, was an die Aromen von Süßwein erinnert. Hinzu kommt die Allzweckwaffe braune Butter. Ihre schwarze Farbe hat die Sauce dem Einsatz von Pflanzenasche zu verdanken, was optisch an Tintenfisch-Tinte erinnert. Besonders aufregend ist das, was sich oben auf dem Fisch befindet: eine Champignon-Creme, für die die Pilze angeschwitzt wurden und anschließend fein gemixt wurden. Darüber befinden sich Späne, die aus der Entfernung fast wie weißer Trüffel oder Bonito-Flocken aussehen, sich aber als feinst gehobelte rohe Champignons entpuppen. Der Duft ist betörend.
Als Dessert serviert Mario Michaelis eine Schnitte aus knusprigem Boden, saftigem Biskuit mit Tabak und einer Schokomousse mit Tee, daneben liegt eine Nocke aus Milch-Eis mit sanfter Rum-Note. Auch die Petit Four sind erneut köstlich: ein intensiv-schokoladiger Cookie und ein Windbeutel mit Schokoladenganache und frischen, intensiven Zitrus-Aromen.
Eine eigene Erwähnung hat auch der Service verdient. Die Mischung aus Aufmerksamkeit und Lockerheit, ohne dabei jemals nachlässig zu werden, ist beeindruckend. Das gilt für jeden einzelnen im Team von Sommelière Sophie Lehmann, über Betriebsleiter Jan-Philipp Fricke bis zum Neuzugang Lino Wizani, der aus dem Louis C. Jacob dazugestoßen ist. Hier ist man gerne zu Gast. Und es ist schön zu sehen, wie sich das Restaurant weiterentwickelt, Gelassenheit und Sicherheit noch größer geworden sind. Mal sehen, was da noch kommt. Am 26. Februar wird übrigens der neue Guide Michelin veröffentlicht.
Nachtrag 26.02.: Er hat ihn! Das „100/200“ wurde mit einem Stern ausgezeichnet.
Ich danke Thomas Imbusch für die Einladung, die Getränke wurden selbst bezahlt.